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Lynn Blattmann

Gender, Fleisch, Auto

Die dre Reizwörter unserer Zeit. Warum wir genau bei diesen Themen so intolerant sind.

Junge Frau geniesst Auto

Bald ist Weihnachten, wir werden wieder gemeinsam am Tisch sitzen und einander mit Diskussionen über Fleisch, Gender oder das Autofahren gegenseitig die Laune verderben.

Denn sobald das Gespräch auf eines dieser drei Dinge kommt, wird die Diskussion schnell moralisch. Dies führt dazu, dass alle, die gerne Fleisch essen, Auto fahren oder ältere weisse Männer sind, Scham verspüren und gar nicht mehr über solche Sachen reden wollen.

Aber holen wir doch aus und schauen wir uns einmal aus der Ferne an, warum es uns so wichtig wurde, was jemand über die vierrädrigen Gefährte, den Fleischkonsum oder über das Geschlechterverhältnis denkt? Warum sehen wir es als unabdingbar an, dass wir heute alle zu solchen Themen gleicher Meinung sind? Klar fühlt es sich besser an, wenn man nicht als einzige in einer Gesellschaft ein Steak bestellt, das hat aber auch damit zu tun, dass beim Essen heute wieder eine riesige Portion Moral mitserviert wird. Und diese Moral macht die Geschichte spannend.


Gender, Auto und der Fleischkonsum sind Themen der Moderne.

Die Genderdiskussion kam im Zuge der Französischen Revolution auf als einigen gewieften Frauen klar wurde, dass die ganze Sache mit der Freiheit für die Hälfte der Menschheit eine Mogelpackung war. Sie realisierten nämlich, dass sich der Begriff Fraternité sehr zu ihren Ungunsten auswirken würde und dass die schöne Liberté und die Egalité durch diese Fraternité zur alleinigen Sache der Männer umgebogen wurde.


Fleisch war damals noch kein besonders heikles Thema. Es gab rigide Vorschriften der Kirchen, wann man Fleisch essen durfte und wann nicht. Die meisten hatten damals allerdings auch in den zulässigen Tagen kein Fleisch auf dem Teller. Fleisch wurde erst zum moralischen Kampfbegriff als die Kirche als Taktgeber für das Essen abgeschafft worden war und wir mit Übergewicht kämpfend fast rund um die Uhr meist industriell hergestellte Fleischprodukte in uns hineinschaufelten.


Auch das Auto wurde erst viel später zum Problem. Es war eine Frau Benz, die das Potential des Gefährts rasch erfasste und damit vor fast 150 Jahren eigenständig zu ihrer Schwester gefahren war. Sie erfuhr damals buchstäblich als erste, was die pferdelose Kutsche so erfolgreich machte: nämlich die Freiheit jederzeit einsteigen und auch ohne Ehemann losfahren zu können. Ein Gefühl, das man zwar auch mit einem Motorrad oder mit einem Fahrrad haben kann, das aber nur mit einem Auto gleichzeitig auch noch unseren Sinn für Luxus, Grosszügigkeit und Platz befriedigen kann.


Lange stellte die Diskussion dieser drei Themen keine grossen Anforderungen an familiäre Tafelrunden, die Männer diskutierten liebend gerne über Autos, die Frauen tauschten stundenlang Rezepte über Rehrücken und ähnlich tückische Fleischgerichte aus und über Gender sprach man damals kaum, weil man noch nicht so genau wusste was das bedeutete.


Heute reden alle mit allen, das macht die Sache kompliziert

Heute hat sich die Art wie wir diskutieren stark geändert. An die Stelle der Pfarrer, die früher den Fleischkonsum geregelt haben traten schlanke meist jüngere Menschen, die mit leuchtenden Augen verkünden, ein Leben ohne Fleisch oder Auto sei nicht nur schöner und gesünder, sondern auch nachhaltig für die Umwelt und alte weisse Männer seien total von gestern. Ausserdem sitzen diese Apostel im Unterschied zu den Pfarrern früher heute meist mit an der Tafel und gucken uns mit vorwurfsvollem Blick auf die Teller, die Autoschlüssel oder auf die Geheimratsecken.

Dasselbe mit den Autos. Seit auch Frauen souverän seitwärts einparken können, und findige Ingenieure tolle elektrische Gefährte erfunden haben, hat sich die Diskussion um die selbstfahrenden Fortbewegungsmittel total verhärtet. Mittlerweile wird verbissen über abgebaute Parkplätze, das Recyclingproblem von Batterien und ähnliche Dinge gestritten. Das funktioniert sogar ohne Moral und es getraut sich niemand mehr zu sagen, dass es Momente gibt, in denen ein vernünftiges Auto auch sehr praktisch sein kann und zwar für Frauen wie für Männer. Und beim Thema Gender wird es so rasch so wahnsinnig persönlich, denn da geht es um weit mehr als nur um Gerechtigkeit, es geht um Geld, Macht und Sex. Bei diesen Themen sind die Menschen besonders empfindlich auch weil sich die meisten in Wahrheit damit gar nicht so gut auskennen wie sie vorgeben.


Gemeinsames Essen als Lernfeld

In den kommenden Wochen haben wir genügend Möglichkeiten miteinander über diese drei Themen zu reden und uns in Toleranz zu üben. Tolerant sein, heisst zu ertragen, dass jemand nicht so denkt wie wir. Noch toller wäre es, wenn wir nachfragen um die Differenz besser verstehen zu können und wenn wir mit Unterschieden leben könnten. Die Chance, Menschen zu treffen die nicht ganz so denken und ticken wie wir ist nie höher als um die Weihnachtszeit Wenn wir gemeinsam mit Arbeitskollegen am Jahresessen oder mit der Familie über die Festtage zusammensitzen, dann treffen wir Menschen, die anders leben wie wir. Es ist die Chance, miteinander einmal in Ruhe über Gender, oder Autos zu reden, einander zuzuhören und nachzufragen. Es soll schon Menschen gegeben haben, die ihre Meinung geändert haben nach einem guten Gespräch. Das Reden über Fleisch würde ich auf den Dessert verschieben, Toleranz fällt einfach leichter wenn grad niemand das Diskussionsthema vor sich auf dem Teller liegen hat.










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